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09.10.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 539

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

musikalisches Rätselraten ist mit dem heutigen Werk angesagt: Die Enigma-Variationen op. 36 von Edward Elgar.

Edward Elgar sitzt im Wohnzimmer am Klavier und improvisiert. Dabei schaut er hinaus auf die Bäume im Garten, die langsam ihre bunten Blätter verlieren. Es ist Spätherbst im Jahr 1898. Ganz in Gedanken versunken ist Elgar; seine Finger suchen sich wie von selbst ihren Weg auf der Tastatur. Plötzlich geht die Wohnzimmertür auf. „Edward, was hast du da gerade gespielt?“ Im Türrahmen steht Elgars Frau Alice. „Ich habe nur ein bisschen vor mich hin improvisiert.“ „Ich meine diese Melodie gerade, die hat mir gefallen.“ Alice geht durchs Zimmer und stellt sich neben ihren Mann ans Klavier. „Kannst du sie noch mal wiederholen?“ Elgar überlegt einen Moment, dann sucht er die Notenfolgen und Akkorde zusammen. „Das klingt wunderschön. Was ist das, Edward?“ „Nichts bisher. Aber es kann noch etwas daraus werden.“

Was daraus nur wenige Monate später wird, sind die 14 Variationen über ein eigenes Thema, sein Opus 36. In seiner handschriftlichen Partitur vermerkt Elgar „Enigma“ - das griechische Wort für „Rätsel“; es wird erst später Bestandteil des Titels. Rätsel geben Elgars Variationen tatsächlich auf. Schon die Variationsbezeichnungen sind sonderbar: CAE, Nimrod, HDS-P; und was bitte ist WMB? Zumindest zu diesem Enigma gibt es eine Lösung: Es sind die Initialen von Personen aus Elgars Freundeskreis. Jede charakterisiert der Komponist in einer Variation.

Die Variation „CAE“ beispielsweise ist seiner Frau Caroline Alice Elgar zugedacht. „HDS-P“ karikiert mit Tonleiterkaskaden den Klavierstil von Elgars Freund Hew David Stewart-Powell; in der Variation „Ysobel“ hört man das schwerfällige Bratschenspiel von Isabell Fitton. Der Name der Variation „Nimrod“ spielt auf die Legende des altorientalischen Helden und Jägers Nimrod an und ist Elgars bestem Freund August Jaeger gewidmet. In der Variation „WMB“ stürmt der energische William Meath Baker in einen Raum, verkündet den Freunden lautstark seine Anweisungen und verschwindet wieder. Und die letzte Variation schließlich beschreibt Elgar selbst. Hier die vollständige Auflistung der einzelnen Variationen:

I: C.A.E. Caroline Alice Elgar - ein zärtliches und würdevolles Porträt der Frau, die Elgar zu dem Komponisten machte, der er war
II: H.D.S.-P. Hew David Steuart-Powell - Amateur-Pianist und Kammermusik-Liebhaber
III: R.B.T. Richard Baxter Townshend - Schriftsteller und Laienschauspieler
IV: W.M.B. William Meath Baker - ein Landedelmann mit einer etwas schroffen Art
V: R.P.A. Richard P. Arnold - Sohn von Matthew Arnold. Ein Mann, dessen „ernste Gespräche stets von skurrilen und geistreichen Bemerkungen durchzogen waren“.
VI: Ysobel Isabel Fitton - eine Laienbratschistin, deren Mühen beim Saitenwechsel hier leicht parodiert werden
VII: Troyte Troyte Griffith - ein Architekt aus Malvern und gelegentlicher (und erfolgloser) Klavierschüler Elgars
VIII: W.N. Winifred Norbury - nicht nur ein Porträt von Winifred Norbury, sondern auch von dem eleganten Haus aus dem 18. Jahrhundert, in dem sie lebte.  
IX: Nimrod August Jaeger - Elgars Verleger; der Mann, der den Komponisten wahrscheinlich besser verstand, als er sich selbst
Diese berühmte Variation war offenbar inspiriert von einem Gespräch, das die beiden Männer über den langsamen Satz der „Pathétique“ Klaviersonate von Beethoven geführt hatten.
X: Dorabella Dora Penny - eine junge Freundin der Elgars, die später ein aufschlussreiches Buch über Elgar schrieb.
XI: G.R.S. George Robertson Sinclair - Organist der Kathedrale zu Hereford mit seiner Bulldogge namens Dan. Elgar zufolge illustriert der Beginn wie „Dan die steile Böschung in den River Wye hinunterfällt (Takt 1), auf der Suche nach einem Landeplatz flussaufwärts paddelt (Takt 2 und 3) und schließlich glücklich bellt, wenn er gelandet ist (zweite Hälfte von Takt 5)“
XII: B.G.N. Basil G. Nevinson - ein Laiencellist, den Elgar sehr schätzte
XIII: *** Romanza - In Elgars Worten: „Die Sternchen treten an die Stelle des Namens einer Dame, die sich zu der Zeit der Komposition auf einer Seereise befand.“ Lange nahm man an, dass es sich dabei um Lady Mary Lygon handelte, doch geht man inzwischen davon aus, dass sich diese Variation auf Helen Jessie Weaver bezieht, die 1884 ihre Verlobung mit Elgar auflöste und später nach Neuseeland auswanderte.
XIV: E.D.U. Finale „Edu(ard)“: - Alices Kosename für ihren Mann; ein kühnes und prächtiges Selbstporträt des Mannes selbst, umgeben von den Freunden, die er am meisten schätzte

„Gewidmet meinen Freunden, die darin abgebildet sind“ - Mit diesen Worten schickt Edward Elgar die fertige Partitur Anfang des Jahres 1899 an den Dirigenten Hans Richter. Dieser führt das Orchesterwerk am 19. Juni in der Londoner St. James Hall auf. Es ist die Geburtsstunde der neueren britischen Musik, der Erfolg ist überwältigend. Bis dahin war der Komponist Edward Elgar wohl mit verschiedenen Orchester- und vor allem Chorwerken in Erscheinung getreten, ohne jedoch eine überdurchschnittliche Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen. So rechnet am Abend der Uraufführung der "Enigma-Variationen" wohl keiner der Anwesenden damit, der Geburtsstunde des ersten sinfonischen Meisterwerks englischer Herkunft beizuwohnen. Elgar etabliert sich mit dieser Komposition endgültig als führender Tonsetzer seines Landes.

Ein Rätsel aber konnte bis heute nicht entschlüsselt werden. Elgar gab nämlich den Hinweis, dass es neben dem Originalthema der Variationen noch ein zweites Thema geben soll. Es „ertönt zwar, wird aber nicht gespielt“. Jahrzehntelang zerbrachen sich Musikwissenschaftler die Köpfe, was das für ein verborgenes Thema sein soll. Einige meinten, es handele sich um eine populäre englische Melodie, andere wiederum waren davon überzeugt, es sei ein variiertes Thema von Chopin. August Jaeger, der Elgar und dessen Humor gut kannte, vermutete sogar, es gäbe überhaupt kein verborgenes Thema. Elgar habe einfach seine lebhafte Freude daran gehabt, andere zu verwirren. Ob wir der Wahrheit irgendwann doch noch auf die Spur kommen? Es bleibt spannend...    

Drei Aufführungen stelle ich Ihnen heute gerne zur Auswahl: Zunächst das Radio Filharmonisch Orkest unter der Leitung von Stanislav Kochanovsky, aufgezeichnet am 26. Februar 2023 im Amsterdamer Concertgebouw:

www.youtube.com/watch

Anlässlich seines 75. Geburtstags musizierte Sir Roger Norrington am 12. März 2009 Elgars Enigma-Variationen mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart in der Stuttgarter Liederhalle:

www.youtube.com/watch

Und zuletzt: Das BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Leonard Bernstein, aufgezeichnet am 14. April 1982 in der Londoner Royal Festival Hall - eine Interpretation, die übrigens bis heute sehr umstritten ist:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd