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15.11.2024 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 704

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

in der heutigen Ausgabe erwartet Sie ein Werk, das als leichtes Stück zum Einstieg in die Musik der Wiener Schule gilt: Alban Bergs Klaviersonate op. 1.

„Der Meister des kleinsten Übergangs“ - so bezeichnete Theodor Adorno seinen Lehrer Alban Berg. In der Tat: Feinste Nuancen und gleitende Wechsel bestimmen auch Bergs Klaviersonate op. 1, die trotz ihrer „harmlosen“ Anmutung manche Herausforderung in sich birgt. Die einsätzige, nur rund zwölf Minuten dauernde Sonate steht in h-Moll, der Charakter ist unverkennbar spätromantisch, der Ausdruck zart und versonnen. Unter der Oberfläche aber brodelt es: Die Themen und Motive sind unauflöslich miteinander verbunden und analytisch kaum zu benennen, die vorgezeichnete Grundtonart sucht man in den meisten Takten vergeblich.

Bergs großes Vorbild war sein Lehrer Arnold Schönberg und dessen einige Jahre früher entstandene erste Kammersinfonie (1906). Deren verschränkte Thematik und auf Quarten basierende Harmonik machte sich Berg in seiner Sonate grundlegend zu eigen - wie Adorno unnachahmlich formulierte: „Schönberg hat die Quartenakkorde utopisch erfunden; Berg, mit dem langen, verhüllten Blick der Erinnerung ins Vergangene eingesenkt, um das zu sorgen seine Musik noch im kühnsten Augenblick nicht vergisst.“

In Bergs Sonate finden sich Pianisten aus verschiedenen Welten wieder. Für die Romantiker ist es ein Stück Moderne, das man mal „riskieren“ kann, für die Modernen ein Stück Romantik, das man sich mal „gönnt“.

Sich in Wien mit einer Klaviersonate als Opus 1 dem Publikum vorzustellen, hatte hochsymbolischen Charakter und war ein heikles Unterfangen. Die Sonatenkunst eines Beethoven, Schubert und Brahms rückte unweigerlich vor das geistige Auge der Hörerinnen und Hörer und legte die Messlatte auf klassische Höhe. Dies musste Alban Berg schmerzlich erfahren, als die Uraufführung seiner Klaviersonate durch die Pianistin Etta Werndorf 1911 zu stürmischen Protesten führte. Das einsätzige, harmonisch wie formal über die Spätromantik hinausgreifende Werk wirkte auf die Zeitgenossen wie eine Verhöhnung der großen Wiener Tradition, obwohl es sie natürlich in aller Emphase fortführte. Aus einem harmonisch gleichsam aufgeladenen Material entwickelt sich im Rahmen eines einzigen großen Satzes eine komplexe Sonatenform aus Exposition, Durchführung, Reprise und Coda.

Zu unseren heutigen Interpreten - hier zunächst Glenn Gould, der Bergs Klaviersonate sehr schätzte:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich hier eine Fassung für Streichorchester von Wijnand van Klaveren, es musiziert die Amsterdam Sinfonietta, der Mitschnitt entstand am 2. Juli 2020
im Muziekgebouw Amsterdam:

www.youtube.com/watch

Und zum Abschluss noch ein kompletter Klavierabend mit Yevgeny Kissin, aufgezeichnet während der Salzburger Festspiele am 14. August 2021 im Großen
Festspielhaus - das Programm:

Alban Berg: Klaviersonate op. 1
Tikhon Khrennikov: Dance op. 5 Nr. 3 und 5 Klavierstücke op. 5
George Gershwin: Three Preludes
Frederic Chopin: Nocturne op. 62 Nr. 1; Impromptus Nr. 1-3 opp. 29, 36 und 51; Scherzo Nr. 1 op. 20; Polonaise op. 53

Zugaben:
Felix Mendelssohn Bartholdy: Duetto "Andante con moto" op. 38
Yevgeny Kissin: Dodecaphonic Tango op. 1 Nr. 2
Frederic Chopin: Scherzo Nr. 2 op. 31
Claude Debussy: Clair de lune

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd