Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück ist das Violinkonzert d-Moll von Robert Schumann - ist es wirklich das Werk eines Wahnsinnigen?
Das Konzert entstand 1853 in Schumanns Zeit als Städtischer Musikdirektor in Düsseldorf. Der junge und überaus talentierte Geiger Joseph Joachim, den Schumann kurz zuvor kennengelernt hatte und der bald zu einem guten Freund wird, wünscht sich ein Werk vom verehrten Meister: "Möchte doch Beethoven’s Beispiel Sie anregen, den armen Violinspielern, denen es, außer der Kammermusik, so sehr an Erhebendem für ihr Instrument fehlt, aus Ihrem tiefen Schacht ein Werk an’s Licht zu ziehen, wunderbarer Hüter reichster Schätze!", schreibt er ihm in einem Brief. Seine Bitte wird erhört: In nur drei Wochen komponiert Schumann das dreisätzige Violinkonzert. Die Uraufführung plant er direkt im Anschluss.
Bei der geplanten Uraufführung am 27. Oktober 1853 in Düsseldorf wurde Schumann Konzert jedoch durch das von Beethoven ersetzt, es kam zum finalen Zerwürfnis zwischen dem Komitee des Musikvereins und ihm. Im Januar des folgenden Jahres gab es mit Joseph Joachim den zweiten Versuch, diesmal in Hannover. Nachdem die Probe aber unglücklich verlief, scheiterte auch diese Aufführung. Schumanns Selbstmordversuch im Rhein und der anschließende Aufenthalt in der Psychiatrie überschatteten die Situation und bestärkten die Kritiker in ihrer Aussage, dass dies das Werk eines Wahnsinnigen sei. Clara Schumann entschied sich nach dem Tod ihres Mannes gegen die Veröffentlichung und schrieb Joachim, dass auch sie das Violinkonzert nicht als vollendet ansah.
Die Rezeption seines Spätwerkes schaute lange durch die Linse seiner psychischen Krankheit und hörte dort den Wahnsinn, wo das zeitgenössische Ohr mittlerweile Innigkeit wahrnimmt. Allzu lange standen einer Etablierung des Violinkonzerts geradezu tragische Widrigkeiten im Wege. Sie begannen damit, dass es zu Lebzeiten Robert Schumanns weder druckfertig vorlag, geschweige denn uraufgeführt werden konnte. Die Misere setzte sich fort mit der zwiespältigen Bewertung, die das Konzert nach Schumanns Tod durch dessen Witwe Clara, wohl auch durch Johannes Brahms, vor allem aber durch den Geiger Joseph Joachim erfuhr. Mit der Folge, dass Schumanns letztes Orchesterwerk in die damals entstehende erste Schumann-Gesamtausgabe nicht aufgenommen wurde.
Da sich anfangs sowohl Clara Schumann als auch Joseph Joachim, dem das Violinkonzert zugeeignet war, für das Stück begeisterten, müssen ihre späteren Vorbehalte im Zusammenhang gesehen werden mit dem nachhaltigen Bann, unter den Schumanns finales Schaffen im Ganzen geriet. An der Schwelle seiner geistigen Erkrankung entstanden, konnte sich dieses Werk - so die gängige Meinung - nicht mehr auf der Höhe seiner Kunst befinden. Um das Ruhmesbild des verehrten Meisters zu „beschützen“, hielten seine Mitstreiter das Violinkonzert vor der Öffentlichkeit somit verborgen. Zudem wollte man ein potentiell strittiges Werk aus der damals tobenden Kontroverse zwischen „Konservativen“ und „Neudeutschen“ heraushalten - aus dem Konflikt um die Beethoven-Nachfolge also, der zwischen den Anhängern Johannes Brahms‘ auf der einen und denen Richard Wagners auf der anderen Seite ausgebrochen war.
Eine weitere Hürde für die Rezeption des Werks entstand, als das Autograph im Nachlass Joachims verschwand und eine Nichtveröffentlichung bis zum 100. Todesjahr des Komponisten verfügt wurde. Dass sich die Sperrfrist schließlich auf 81 Jahre verkürzte, kann allerdings auch nicht als glückliche Fügung betrachtet werden. Denn nun - man schrieb das Jahr 1937 - gerieten Publikation und Uraufführung von Schumanns Violinkonzert unter fatale politische Vorzeichen: Das Werk sollte als „arischer“ Ersatz für das verfemte Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy herhalten.
Als Schumanns Violinkonzert d-Moll von den Nationalsozialisten aus der Preußischen Staatsbibliothek ausgegraben wurde, nahmen der entsprechende Solist Georg Kulenkampff und der anonym bleibende Paul Hindemith Änderungen vor, da die „Originalstimme meines Erachtens unverändert unmöglich“ sei, so der Geiger. Gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Karl Böhm spielte Kulenkampff am 26. November 1937 die veränderte Solo-Partie am Deutschen Opernhaus Berlin - eine Uraufführung, die als deutscher Ersatz für den frisch vom Spielplan gestrichenen Mendelssohn herhalten sollte. Reden von Goebbels und Ley umrahmten diese propagandistische Inszenierung.
Gegen diese historischen Hypotheken war nur schwer anzukommen, und es bedurfte des Engagements von Interpreten verschiedener Generationen, um Schumanns Violinkonzert zu rehabilitieren. Eine Pionierleistung vollbrachte Yehudi Menuhin, der sich - anders als Georg Kulenkampff - vorbehaltlos zur originalen Gestalt des Werks bekannte. Ihm folgte Henryk Szeryng, dessen meisterhaftes Spiel alle Behauptungen Lügen strafte, der Solopart sei zwar schwer ausführbar, aber wenig wirkungsvoll.
Vielen heutigen Solistinnen und Solisten scheint die Frage nach effektsicheren Aufgaben zweitrangig zu sein. Meist wissen sie mit dem ganz eigenen Anspruch und Charakter des Konzerts produktiv umzugehen - eines Werks, dessen Schönheiten nicht offen zutage treten, einer Musik der gedeckten Farben, die die Klangmöglichkeiten der Violine eher zurückhaltend nutzt. Anstelle virtuosen Blendwerks bietet das Stück - nach Schumanns eigenen Worten - „das Abbild von einem gewissen Ernst, hinter dem oft eine fröhliche Stimmung hervorsieht“. Diese Ausdruckshaltungen phantasievoll zu verbinden, gehört zu den Kriterien gelungener Darbietungen des Konzerts.
Was lange als Werk eines Wahnsinnigen galt, wird heute als überaus innig, lyrisch, poetisch und emotional tiefschichtig wahrgenommen. Dabei hatte schon Tschaikowsky die visionären Qualitäten des Konzerts erkannt: "In Schumanns Musik finden wir den Widerhall geheimnisvoller Prozesse unseres Seelenlebens, jener Zweifel, Depressionen und Aufblicke zum Ideal, die das Herz des heutigen Menschen bewegen. Die Geschichte hat für Schumann noch nicht begonnen." Die Neubewertung eines verkannten Meisterwerks der Romantik war mehr als überfällig. Auch wenn Robert Schumanns Violinkonzert d-Moll mittlerweile eine geachtete Position im Konzertleben einnimmt, und auch wenn in jüngster Zeit geradezu ein Schub von Neueinspielungen (etwa von Christian Tetzlaff, Carolin Widmann oder Isabelle Faust) zu verzeichnen ist - zur „Zugnummer“ ist es dennoch (noch) nicht geworden.
Isabelle Faust spielte Robert Schumanns Violinkonzert d-Moll am 25. März 2014 in der Berliner Philharmonie gemeinsam mit dem Freiburger Barockorchester unter der Leitung von Pablo Heras-Casado:
Und wer noch mehr Schumann hören und sehen möchte: Das Freiburger Barockorchester musizierte unter der Leitung von Pablo Heras-Casado am 25. März 2014 alle drei Solo-Konzerte von Robert Schumann in der Berliner Philharmonie. Das komplette Programm:
Ouvertüre, Scherzo und Finale E-Dur op. 52
Klavierkonzert a-Moll op. 54 (Alexander Melnikov, Klavier)
Violinkonzert d-Moll WoO 1 (Isabelle Faust, Violine)
Cellokonzert a-Moll op. 129 (Jean-Guihen Queyras, Cello)
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler