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17.10.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 841

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

vorab zugegeben: Das heutige Musikstück stellt eine nicht geringe Herausforderung dar - aber wer offen ist für neue Klänge, kann sich vielleicht auch für diesen Klassiker (das Werk entstand bereits 1980) begeistern lassen: Die Notations für Orchester von Pierre Boulez.

In der Musikgeschichte ist es eine gängige Praxis, dass Komponisten im Laufe ihres Schaffens an bereits geschriebene Werke anknüpfen, diese überarbeiten, für eine andere instrumentale Besetzung transkribieren oder in neue Existenzformen überführen. Dass sich ein Komponist wie im Fall von Pierre Boulez über mehr als sechs Jahrzehnte immer wieder mit einem Jugendwerk beschäftigt, ist jedoch ein Unikum. Zur Entstehungszeit der "Douze Notations pour piano" war diese langanhaltende schöpferische Auseinandersetzung dabei keineswegs absehbar. Denn dem jungen Boulez erschien der in der Klaviersammlung erreichte Stand vor dem Hintergrund seiner rasanten kompositorischen Entwicklung schon bald als veraltet. Deutlich wird dies beim Blick auf die Publikationsgeschichte. Während Boulez die zu Beginn des Jahres 1946 geschriebene Sonatine für Flöte und Klavier sowie die erste und zweite Klaviersonate in den frühen 1950er Jahren veröffentlichte, ließ er die Douze Notations bezeichnenderweise in der Schublade. Erst 1985 erschien die Klaviersammlung bei der Wiener Universal Edition im Druck. Zu diesem Zeitpunkt hatte die verzweigte Bearbeitungsgeschichte des Werkes längst begonnen.

Die erste Bearbeitung der Douze Notations entstand unmittelbar nach Vollendung der Klaviersammlung im Jahr 1946. Sie wurde allerdings bis heute weder aufgeführt noch gedruckt. Die bedeutendste Beschäftigung mit dem Material und eigentliche Metamorphose der in der Klaviersammlung skizzenhaft exponierten Ideen begann in den späten 1970er Jahren. Im Hintergrund standen dabei Boulez’ akustische Forschungen am Pariser IRCAM sowie seine intensive Beschäftigung mit der Musik Richard Wagners. 1976 dirigierte er bei den Bayreuther Festspielen die bahnbrechende Neuproduktion des Ring des Nibelungen in der Inszenierung von Patrice Chéreau. Auch in den folgenden drei Jahren verbrachte Boulez einen Teil des Sommers in Bayreuth, um die Wiederaufnahmen des sogenannten „Jahrhundert-Rings‟ zu leiten. In diesem Zusammenhang entstand 1978 die Idee, das immer noch in der Schublade liegende Jugendwerk hervorzuholen und an den spiel- und probenfreien Tagen mit einer zweiten Orchesterbearbeitung zu beginnen.

Pierre Boulez über die Orchesterfassung seiner Klavierstücke: „Zuerst dachte ich an eine reine Orchestrierung, habe aber dann gemerkt, dass das nicht genug ist. Denn für einen großen Orchesterapparat waren diese Stücke viel zu kurz. Es gibt ja mehr oder weniger ein Verhältnis zwischen der Länge eines Stücks und der Größe des Apparats. Also musste ich diese Ideen bearbeiten, als rohes Material. Ich habe gedacht: "Gut. Ich habe diese Ideen, die sehr kurz sind. Ich muss sie ausdehnen und sehen, wie sie sich weiterentwickeln." Das war eine sehr interessante Arbeit. Denn einerseits gab es da eine große Distanz zu den Ideen, die weit zurücklagen, gleichzeitig aber waren diese Ideen für mich voller Möglichkeiten, die ich 1945 überhaupt nicht gesehen habe. Es waren Jugendstücke, gesehen durch den Spiegel von heute.‟

Im Juni 1980 erfolgte die Uraufführung der Orchesterversion von Notations I–IV durch das Orchestre de Paris unter Leitung von Daniel Barenboim. 17 Jahre später entwickelte Boulez eine Orchesterfassung von Notation VII, die am 14. Januar 1999 von Barenboim mit dem Chicago Symphony Orchestra uraufgeführt und anschließend revidiert wurde. 

Bei dem unabgeschlossen gebliebenen Zyklus der Notations für Orchester handelt es sich also um eine Neu-Interpretation der frühen Klavierstücke. Die dort skizzenhaft exponierten Ideen fungieren gleichsam als Keime, die sich im Lichte der Möglichkeiten des Klangmediums Orchester entfalten. Der Prozess der Wucherung, Ausdehnung und Vervielfachung des Grundmaterials ist dabei so weitreichend, dass sich die Verbindungen zwischen den Klavier- und Orchesterstücken oft erst bei einem genaueren Studium erschließen. So hat Boulez beispielsweise aus dem etwa einminütigen Klavierstück Notation VII ein Orchesterstück von rund neun Minuten Spieldauer entwickelt.

Daniel Barenboim erzählt im Interview mit Wolfgang Schaufler über die Entstehung und Uraufführung der Notations pour orchestre:

www.youtube.com/watch

In der folgenden Sendung sind zahlreiche Probenausschnitte zu einer Aufführung der Notations I-IV zu sehen, es musiziert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Daniel Barenboim, der auch mit den Klavierstücken zu sehen ist - auch Pierre Boulez ist bei den Proben anwesend:

www.youtube.com/watch

Hier ein Mitschnitt der Notations I-IV + VII vom September 2011 mit der Lucerne Festival Academy unter der Leitung von Pierre Boulez:

www.youtube.com/watch

Und zum Abschluss noch ein komplettes Konzert mit dem Chicago Symphony Orchestra unter der Leitung von Daniel Barenboim aus der Kölner Philharmonie, das im Rahmen der Musik-Triennale am 28. April 2000 stattfand - hier das komplette Konzertprogramm:

Pierre Boulez - Notations I-IV für großes Orchester
Claude Debussy - La mer
Manuel de Falla - Der Dreispitz (Elisabéte Matos, Mezzosopran)
Zugabe: José Carli - El Firulete

www.youtube.com/watch

Letzter Hinweis für heute - ein Gespräch zwischen Pierre Boulez und Daniel Barenboim über moderne Musik, aufgezeichnet im Jahr 2000 in Köln:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd