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30.08.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 523

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

ein Schlüsselwerk aus dem Werk von Dmitri Schostakowitsch erwartet Sie in der heutigen Ausgabe: Die Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93. Es ist sein Rückblick auf die Stalin-Ära Russlands, in der Schostakowitsch und seine Landsleute der Willkür und Gewaltherrschaft Stalins ausgeliefert waren, die auch vor der Kunst nicht Halt machte.

Trotz oder wegen des gewonnenen Kriegs wurde das Leben in der Sowjetunion auch nach 1945 nicht einfacher; unter den Repressalien von Stalins Terrorregime hatte auch Dmitri Schostakowitsch zu leiden. Der Vorwurf des Formalismus wurde ihm seit 1936 gemacht; seine vierte Sinfonie etwa hatte er deshalb zurückziehen müssen. Die nach dem Sieg über Nazideutschland von ihm erwartete Triumphmusik blieb er schuldig: seine groteske neunte Sinfonie war weit davon entfernt und enthielt außerdem versteckte, aber deutliche, kritische Anspielungen an Stalin.   

Nach den Demütigungen im Zuge der „antiformalistischen“ Säuberungen von 1948, bei der er seiner Lehrämter enthoben wurde, zog sich Schostakowitsch zurück. Gleich nach Stalins Tod am 5. März 1953 konnte er dann eine erhebliche Anzahl ernsthafter Werke aus seinen Schubladen hervorziehen, die entweder auf ihre Uraufführung oder ihre Rehabilitierung warteten. Seine zehnte Sinfonie - zwischen Juli und Oktober 1953 komponiert - wurde am 17. Dezember 1953 vom Leningrader Philharmonischen Orchester unter Leitung von Jewgeny Mrawinsky uraufgeführt; es war seine erste sinfonische Arbeit seit 1945.


Der zweite Satz ist, wie der Komponist selbst dazu bemerkte "ein musikalisches Porträt von Stalin": "...niemand kann mir vorwerfen, dieses schändlichste Phänomen unserer Wirklichkeit übergangen zu haben", notierte Schostakowitsch dazu. Seine Zehnte rief wieder heftige Diskussionen in Russland hervor, aber diesmal waren sie für Schostakowitsch nicht mehr bedrohlich. Er verteidigte sein Werk gegen Kritik und lehnte es ab, es umzuarbeiten: "Ich habe das Werk als Gesamtheit erdacht und durchlebt, und es fiele mir schwer, wieder zu ihm zurückzukehren." 
 

Natürlich ist es kein Zufall, dass Schostakowitsch gleich mehrfach Bezug auf die 80 Jahre zuvor entstandene Oper "Boris Godunow" von Modest Mussorgsky nimmt. Denn der gleichnamige Zar war um 1600 ein brutaler Usurpator, und schon im ersten Satz übernimmt Schostakowitsch ausgerechnet Teile des Wahnsinns-Themas aus Mussorgskys Werk. Das folgende Allegro ist kurz - ein kürzeres Scherzo findet sich bei Schostakowitsch nicht -, aber es ist ungeheuer ausdrucksstark: Diesen zweiten Satz als persönliche Abrechnung des Komponisten mit Stalin zu verstehen, ist keineswegs falsch. Das erste Thema entstammt ebenfalls aus "Boris Godunow". Stampfend und zugleich äußerst gehetzt entwickelt dieser Satz einen gewaltigen Sog, es ist Musik gewordener Schmerz.

Sehr persönlich wird es dann im Allegretto. Zum einen benutzt Schostakowitsch hier die Tonfolge seiner Initialen D-Es-C-H, zum anderen wieder ein Zitat aus "Boris Godunow": In diesem Falle mit Bezug auf die Figur eines Mönches, der verkündet, dass Russland sich einen Mörder zum Herrscher erkor. Das finale Allegro beginnt zunächst mit einer düsteren Andante-Einleitung, der sich eine Art Tanzmusik anschließt, in der es vergleichsweise heiter zugeht. Doch dann bricht das aus dem zweiten Satz bekannte Thema ein - Stalin lässt keine Freude zu. Wenn das D-Es-C-H-Motiv diese Sinfonie triumphal beschließt, ist dies wohl kein Zeichen für einen übersteigerten Narzissmus des Komponisten, sondern eher für die Kraft der Musik: Sie besiegt - zumindest symbolisch - die Unterdrückung.

Zwei Mitschnitte stelle ich Ihnen heute zur Auswahl, zunächst mit dem Simon Bolivar Youth Orchestra of Venezuela unter der Leitung von Gustavo Dudamel. Der Mitschnitt entstand 2007 im Rahmen der BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich: Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Sir Georg Solti, aufgezeichnet 1993 in der Münchner Philharmonie im Gasteig:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd