Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
Folge 400 ist heute erreicht - und dieses Jubiläum soll heute opulent begangen werden mit den Gurre-Liedern von Arnold Schönberg, einem groß besetzten Chor- und Orchesterwerk, das - anders als man bei Schönberg zunächst erwartet - mit einem gigantischen Sonnenaufgang in C-Dur endet. Trotz der riesigen Besetzung: Schönbergs Gurre-Lieder geben dem Orchester auch dankbare Gelegenheit für Klangzauberei.
Er unterschrieb Texte gern mit dem Pseudonym Jens Quer - eine Abkürzung von "jenseitiger Querkopf". Und das war er auch: Arnold Schönberg. In die Musikgeschichte eingegangen ist Schönberg mit zwei explosiven Neuerungen: 1908 schrieb er seine ersten atonalen Werke. Kein Dur mehr und kein Moll, keine Tonart. Man könnte auch sagen: alle Tonarten auf einmal. Und Anfang der Zwanziger Jahre dann der nächste Schritt: die Zwölftonmusik. Alle zwölf Töne sind gleichberechtigt, es lebe die Dissonanz! Schönberg war ein Revolutionär, aber, wie es sich für einen echten Querkopf gehört, ein komplizierter, nämlich: ein konservativer Revolutionär.
Zeitlebens verehrte er Bach, Mozart, Beethoven, Brahms - und Wagner. Der junge Schönberg hatte im Stil von Brahms begonnen und wurde schnell glühender Wagnerianer. Aber einfach nachahmen war natürlich uninteressant - vielleicht könnte er, Schönberg, Wagner ja noch überwagnern? Im Jahr 1900 begann er, damals Mitte 20, ein Mammutwerk: die Gurre-Lieder. Geschrieben für eine Mammutbesetzung: 5 Gesangssolisten, Sprecher, mehrere Chöre, 4 Harfen, 6 Pauken, 7 Posaunen, 8 Flöten, 10 Hörner, Tamtam, Ratschen, Rührtrommel, einige große eiserne Ketten und so weiter. Und natürlich so viele Streicher, wie nur irgendwie noch auf die Bühne passen. Zu hören sind die Gurre-Lieder selten – naheliegend bei dem riesigen Aufwand.
Schönberg brauchte übrigens 11 Jahre für das Stück. Inzwischen war er vom Wagnerianer zum Atonalen geworden, aber sein Jugendwerk beendete er trotzdem. 1913 fand die Uraufführung unter der Leitung von Franz Schreker statt. Das Wiener Publikum war auf alles gefasst, auf schrägste Dissonanzen, wüsteste Neutönerei - und hörte stattdessen eine klangverliebte, rauschhaft spätromantische Musik. Riesenjubel - aber Schönberg, der sich ärgerte, dass immer nur seine Jugendwerke Erfolg hatten, verbeugte sich mit dem Rücken zum Publikum. Er war und blieb eben ein jenseitiger Querkopf.
Die Texte, die den Anstoß zu einem solchen Mammutwerk gaben, stammten aus einer Gedichtsammlung des dänischen Dichters Jens Peters Jacobsen (1847–1885), die wiederum von mittelalterlichen Sagen inspiriert war. Die literarische Vorlage wie auch Schönbergs musikalische Umsetzung zeugen vom starken Einfluss des Wagnerismus im Fin de Siècle; kaum ein Komponist, Schriftsteller oder Künstler konnte sich ihm entziehen.
Die „Lieder aus Gurre“ erzählen in drei Teilen von zwei Liebenden, König Waldemar und Tove. Als Königin Helwig die Untreue ihres Gatten Waldemar entdeckt, lässt sie Tove töten. In seiner Wut wendet sich Waldemar gegen Gott selbst und nennt ihn einen Tyrannen, weil er es zuließ, dass Tove starb. Als Strafe für seine Gotteslästerung wird Waldemar dazu verdammt, jede Nacht mit den Geistern seiner toten Männer zu einer wilden Jagd auszureiten. Erst der Frühling vermag diesen scheinbar endlosen Kreislauf zu durchbrechen. Während sich die ganze Welt mit neuem Leben füllt, schließen die Seelen von Waldemar und Tove im Erwachen der Natur ihren lang ersehnten ewigen Bund.
Bevor das Werk mit dem überwältigenden Chor "Seht die Sonne" endet, greift Schönberg zuvor in dem Abschnitt „Des Sommerwindes wilde Jagd“, der von einem Sprecher vorgetragen wird, auf die Kunstform des Melodrams zurück. In vielerlei Hinsicht erinnert der Abschnitt eher an spätere Formen der Filmmusik mit einer Erzählerstimme aus dem Off - der einzige Unterschied liegt darin, dass Schönberg den Sprecherpart exakt notiert, wobei er seine spezielle Technik der Sprechstimme verwendet, die er im "Pierrot lunaire" von 1912 vervollkommnet hatte. Der Sänger/Sprecher folgt dabei einem mit festen Tonhöhen notierten Stimmverlauf, verwendet aber eine Umsetzung, die zwischen Singen und Sprechen liegt. Mit dem zuversichtlichen Schlusschor, der bezeichnenderweise nunmehr von einem gemischten Chor vorgetragen wird (alle Chöre zuvor sind den Männerstimmen vorbehalten) und quasi das weltliche Gegenstück zum Finale von Mahlers „Auferstehungssinfonie“ bildet, wird der Sonnenaufgang begrüßt.
Das Berliner Publikum geizt grundsätzlich nicht mit Beifall, wenn er berechtigt ist. Dennoch: Ein solcher Applausorkan, wie er am 8. August 1988 in der Philharmonie zu erleben war, dürfte auch in Berlin eher die Ausnahme gewesen sein: Zu erleben sind im folgenden Mitschnitt Jessye Norman, Brigitte Fassbaender, George Gray, Hartmut Welker, Philip Langridge, Barbara Sukowa, der Ernst Senff Chor Berlin, der Philharmonische Chor Berlin, der Wiener Jeunesse Chor, das European Community Youth Orchestra und das Gustav Mahler Jugendorchester unter der Leitung von Claudio Abbado:
Zum Vergleich, da doppelt ja bekanntlich besser hält: 2009 erfüllte sich Mariss Jansons im Rahmen der Feierlichkeiten zum 60. Jubiläum des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks zugleich einen eigenen Herzenswunsch. Jansonsʼ Begeisterung für Schönbergs Vertonung der Legende um den dänischen König Waldemar und seine heimliche Liebe zu dem Mädchen Tove war grenzenlos: Er träumte von einer Aufführung am Schauplatz der Dichtung, der Burgruine Gurre auf der dänischen Insel Seeland, gar von einer Verfilmung - aber letztlich war das reine Klangwerden-Lassen der Partitur in der Münchner Philharmonie Sensation genug. Auch diese Aufführung wurde stürmisch gefeiert. Zu erleben waren am 22. September 2009: Deborah Voigt, Mihoko Fujimura, Stig Andersen, Herwig Pecoraro, Michael Volle, der NDR-Chor, der MDR-Rundfunkchor Leipzig sowie Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Mariss Jansons:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler