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27.03.2025 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 755

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

aus organisatorischen Gründen kommt diese Ausgabe einen Tag früher zu Ihnen. Unser heutiges Musikstück zählt zu den populärsten amerikanischen Werken: George Gershwins "Ein Amerikaner in Paris".

Diese Tondichtung kann man mit Fug und Recht autobiographisch nennen: Im Frühjahr und Sommer 1928 unternahm der Amerikaner George Gershwin eine Reise nach Paris - in die "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts", wie sie Walter Benjamin bezeichnet hat. Für viele Künstler hatte Paris eine magnetische Anziehungskraft; als Gershwin die Stadt besuchte, stand sie in der Blüte der "Années folles", der Goldenen Zwanziger. Auf Gershwins Plan stand, möglichst viele Musiker der "Alten Welt" zu treffen, darunter die Komponistengruppe der "Six" um Jean Cocteau mit Arthur Honegger und Francis Poulenc, aber auch Eminenzen wie Sergej Prokofjew und Maurice Ravel.

Was nun im "Amerikaner in Paris" verarbeitet ist, sind weniger die Menschen, mit denen Gershwin zusammentraf, als vielmehr die Stimmung der Stadt. "Es ist meine Absicht, die Eindrücke eines amerikanischen Reisenden wiederzugeben, der durch Paris schlendert, der auf den Straßenlärm hört und die französische Atmosphäre in sich aufnimmt", so der Komponist. Gershwins "Amerikaner in Paris" ist eine Skizze der Rush Hour auf der Champs Elysées, mit Motordröhnen und quäkenden Hupen.  "Wie in meinen anderen Orchesterwerken habe ich mich dabei nicht bemüht, irgendeine bestimmte Szene in Musik zu setzen", erklärte Gershwin zu seinem Werk. Als Tourist sitzt er rauchend in Cafés, saugt die morbid-lüsterne Atmosphäre am Montmartre in sich auf, bestaunt den imposanten Eiffelturm. Das Stück ist trotzdem mehr als ein klingender Reiseführer: Es erzählt von Gershwins Heimweh nach New York.

Typisch amerikanische Rhythmen und Melodien ziehen sich wie ein roter Faden durch das Werk: Ein Ragtime porträtiert den Amerikaner. Ein Blues im Mittelteil steht im buchstäblichen Sinne für den Blues, den Gershwin in Paris schiebt, für seine Melancholie. Aber zum Glück trifft der Amerikaner auf einen Leidensgenossen und Landsmann. Die beiden pfeifen auf das Cancan-tanzende Paris mit einem lässig-coolen Charleston.

Bei der Uraufführung am 13. Dezember 1928 in der New Yorker Carnegie Hall übernimmt der Komponist persönlich den Klavierpart. Außerdem hat Gershwin für sein Werk extra vier verschieden tönende Pariser Taxihupen importieren lassen. Die Uraufführung durch die renommierten New Yorker Philharmoniker bedeutet für Gershwin eigentlich, dass er im Olymp der "Ernsten Musik" angekommen ist. Genau dort möchte der Uraufführungsdirigent und Auftraggeber des Werkes, Walter Damrosch, den 30-jährigen Gershwin etablieren. Der allerdings will weder ein zweiter Strawinsky noch ein zweiter Ravel werden. Gershwins Stärke liegt darin, den amerikanischen Lebensrhythmus aufzuspüren. Dazu braucht er nicht zwingend die New Yorker Philharmoniker, ihm genügt eine Jazz-Combo wie in seiner "Rhapsody in Blue".

Spätestens mit diesem Werk ist klar, warum Maurice Ravel es einst abgelehnt hatte, Gershwin zu unterrichten: "Sie sind ein erstklassiger Gershwin. Warum wollen Sie ein zweitklassiger Ravel werden?" Als Komponist etabliert sich Gershwin auch ohne Damrosch. Die neun Jahre Lebenszeit, die er nach dem "Amerikaner in Paris" noch vor sich hat, nutzt er, um am Broadway Karriere zu machen. Posthum erhält Gershwin 1952 einen Oscar für die Musik im Musical-Film "Ein Amerikaner in Paris".

Drei Mitschnitte stelle ich Ihnen heute zur Auswahl, zunächst mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Alan Gilbert, aufgezeichnet am 1. September 2021 in der Hamburger Elbphilharmonie:

www.youtube.com/watch?si=fnXLh3qREMlJLy6b&v=wkyZggrk_KE&feature=youtu.be

Ein Mitschnitt aus der Londoner Royal Albert Hall aus dem Jahr 1976 - Leonard Bernstein mit dem New York Philharmonic Orchestra:

www.youtube.com/watch

Und zum Schluss das Los Angeles Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Gustavo Dudamel, aufgezeichnet 2011 in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles: Vor dem "Amerikaner in Paris" erklingt noch Gershwins "Cuban Overture":

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd