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27.01.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 431

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

unser heutiges Musikstück zählt eher zu den unbekannten Werken - dass es sich dennoch um ein besonderes Werk handelt, kann man bereits daran absehen, dass erst nach fast 50 Jahren seiner Entstehung die Uraufführung erfolgte: Die Sinfonie Nr. 2 von Charles Ives.

Charles Edward Ives wurde zu Lebzeiten als Komponist kaum wahrgenommen, geschweige denn anerkannt. Viele sahen in ihm einen eigenbrötlerischen Hobbykomponisten, hatte Ives doch zeitlebens einen Brotberuf in der Versicherungsbranche. Er fürchtete einfach, als freischaffender Komponist zu viele Kompromisse machen zu müssen, um von der kompositorischen Arbeit leben zu können. Daher komponierte er ausschließlich in seiner Freizeit. Als junger Mann hatte er das Orgelspiel erlernt und mit 15 Jahren seine erste Stelle als Organist angetreten. Mit 20 Jahren begann er ein systematisches Kompositionsstudium bei Horatio Parker, einem anerkannten Lehrer und Komponisten, dem Ives sein ganzes musikalisches Handwerk verdankte. Schon sehr bald distanzierte er sich aber davon und schlug völlig neue Wege ein. Daher sorgten seine Werke oft für Irritationen - sofern sie überhaupt aufgeführt wurden. Denn sie gingen mit musikalischem Material auf sehr eigenwillige Weise um.

Häufig wirken sie wie Collagen und verschiedene musikalische Stile stehen unvermittelt nebeneinander. Ives verwendet Bitonaliät (gleichzeitige Verwendung von zwei verschiedenen Tonarten) und Polytonalität sowie Vierteltöne in Ergänzung zu Halbtönen - das alles, bevor es von europäischen Komponisten eingeführt wurde! Gleichzeitig haben viele seiner Werke einen konkreten amerikanisch-nationalen Bezug durch die Verwendung von Themen, Titeln oder auch philosophischen Anspielungen. So stand Ives etwa der amerikanischen Ausprägung des Transzendentalismus nahe. Als Staatsbürger positionierte er sich früh gegen Rassismus und übermäßigen Patriotismus. Letzteres ist gut daran erkennbar, dass er entsprechende Lieder oft musikalisch karikierte. Ives wird heute als Begründer der amerikanischen Musik anerkannt.  

Betrachtet man das Werk als Ganzes, so scheint es Ives' Ziel gewesen zu sein, eine Sinfonie zu komponieren, die einerseits der europäischen romantischen Tradition verpflichtet ist, andererseits aber melodisch klar amerikanisch inspiriert ist. Damit gehört das Werk zu denen, die am ehesten einen Zugang zu Ives' Musik ermöglichen. In der Verwendung zahlreicher traditioneller amerikanischer Melodien hat es einen klar nostalgischen Charakter. Gleichzeitig war genau diese Eigenschaft dafür verantwortlich, dass die Sinfonie erst 1951, also drei Jahre vor Ives' Tod, von Leonard Bernstein uraufgeführt wurde, der das Werk für die bedeutendste Sinfonie eines amerikanischen Komponisten ansah und es häufig aufführte. Für die Uraufführung, die am 22. Februar 1951 (Nationalfeiertag zum Gedenken an George Washingtons Geburtstag) durch das New York Philharmonic erfolgte, veränderte Ives übrigens den Schluss. Eine ursprünglich recht konventionelle Wendung wurde nun durch einen sehr überraschenden Schlussakkord ersetzt.

Das fünfsätzige Werk ist dreiteilig und symmetrisch aufgebaut. Im Zentrum steht ein langsamer Satz. Er wird umrahmt von zwei Sätzen mit jeweils einer langen Einleitung. Erster und vierter Satz sind thematisch eng miteinander verwandt. In allen Sätzen verwendet Ives damals populäre traditionelle Melodien. Bereits im ersten sind es drei, von denen die bekannteste wohl das Lied "Columbia, the Gem of the Ocean" ist. Eröffnet wird der Satz von einer geradezu altmeisterlichen Paraphrase von Stephen Fosters Lied "Massa’s in de Cold Ground". Das Werk wird reichhaltig von Anklängen an amerikanische Volkslieder und anderen musikalischen Zitaten durchzogen, darunter auch Stephen Fosters “The Camptown Races”, Märsche, Kirchenlieder, Volksfiedelei und ein Studentenlied. Nach Erinnerung von Harmony Twitchell Ives, der Ehefrau des Komponisten, wollte er mit diesen Anklängen bewusst etwas von der eklektischen musikalischen Atmosphäre erfassen, die er als Junge im ländlichen Connecticut unter Anleitung seines Vaters genossen hatte. Die Tatsache, dass die Melodiezitate in den Schlusssätzen wiederkehren und pathetisch überhöht werden, verweist vom Verfahren her auf die Tradition der spätromantischen Sinfonie etwa bei Anton Bruckner. Gleichzeitig ist der Tonfall aufgrund der verwendeten Melodien ein völlig anderer und absolut individuell.

Als die New Yorker Kritiker das Werk zum ersten Mal hörten, waren sie sofort vom nationalen Charakter des Werkes beeindruckt, ohne in diesem Moment ahnen zu können, wie grundsätzlich es sich von der europäischen Klangwelt seines romantischen Vorgängers unterschied. Wie Olin Downes in der New York Times kommentierte, war die Musik der Zweiten “mal auf grobe, mal zärtliche mal fantastische und mal zänkische Weise yankee-isch”. Virgil Thomson meinte in der Herald Tribune, dass die Musik “mit Liebe und Humor und einem tiefen Glauben vom amerikanischen Leben spricht".   

Bernstein blieb der zweiten Sinfonie verpflichtet; als neuer Musikdirektor des New York Philharmonic griff er das Werk 1958 wieder auf, und 1960 spielte er es für das Columbia-Label ein. Ives persönlich wohnte der Uraufführung des Werkes nicht bei, erlebte jedoch die Rundfunkübertragung und ließ den renommierten Dirigenten später wissen, dass dieser die schnellen Sätze zu langsam gespielt hätte.

Im Juni 1987 stellte Leonard Bernstein das Werk in München auch dem deutschen Publikum vor. Mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks trat er in der Kongresshalle des Deutschen Museums in München auf und stellte das Werk auch in einer kurzen, launigen Einführung selbst vor - auch heute noch absolut sehenswert:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Urlaubsgrüßen von der Nordsee

Matthias Wengler

Beitrag von sd