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19.04.2023 Kategorie: Musik in schwierigen Zeiten

Musik in schwierigen Zeiten - 466

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

"Cembalo - das klingt wie eine Nähmaschine" - dieses nicht sehr freundliche Urteil hört man öfter. Bei dem heutigen Musikstück spielt die Nähmaschine allerdings eine entscheidende Rolle: Das Concert champêtre von Francis Poulenc.

Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war der musikalische Salon, häufig geführt von einer Frau, ein beliebter Ort der Begegnung von Künstlern. Für die Musik besonders wichtig war der Pariser Salon der Prinzessin de Polignac, die als Winnaretta Singer als Tochter und Erbin des berühmten Nähmaschinenfabrikanten in New York geboren wurde. Ihren Adelstitel verdankte sie ihrer zweiten Ehe mit Edmond de Polignac. Sie förderte viele Künstler ihrer Zeit, darunter Nadia Boulanger, Clara Haskil, Arthur Rubinstein, Vladimir Horowitz, Ethel Smyth, die Ballets Russes, die Pariser Oper und das Orchestre Symphonique de Paris. Bei ihr verkehrten Schriftsteller wie Marcel Proust, Jean Cocteau oder Colette sowie die großen Komponisten von Gabriel Fauré und Emmanuel Chabrier bis zu Francis Poulenc und Igor Strawinsky. Ihrer Initiative verdanken wir wichtige Kompositionen u. a. von Manuel de Falla, Darius Milhaud, Erik Satie, Maurice Ravel und Kurt Weill.

In diesem Salon lernte Francis Poulenc auch ein Werk von Manuel de Falla ("Meister Pedros Puppenspiel") kennen, bei dem der Spanier unter Rückgriff auf alte Volkslieder und durch den diskreten Einsatz eines Cembalos die klangliche Aura des 17. Jahrhunderts wieder lebendig werden lassen wollte. Die polnische Cembalistin Wanda Landowska übernahm damals bei de Falla den Solopart, und Poulenc, sogleich fasziniert von dem eigenartigen, ungewohnten Klang des Instruments, versprach ihr, eigens ein Konzert für sie zu komponieren. 1929 wurde dieses „Concert champêtre“ schließlich uraufgeführt. Die Idee eines unbeschwerten, naturnahen Lebens durchdringt das ganze Werk, und Poulenc versteht „champêtre“ (das ländliche, einfache, natürliche) im Sinne Diderots oder Rousseaus. Unüberhörbar ist er dem Zauber des Waldes von Saint-Leu-la Forêt verfallen, wo er Wanda Landowska besucht und ihr Cembalo bewundert hatte.

Poulencs Concert Champêtre klingt wie ein Gruß aus längst vergangenen Zeiten. Allerdings offenbart sich Poulenc hier als ein dem Fortschritt äußerst zugewandter Konservativer, indem er Barock und Moderne vereint. Wie er das macht? Gleich zu Beginn kombiniert er eine getragene, barocke Einleitung mit moderner Harmonik und präsentiert das Allegro dann als humoristische Jagdmusik, die einem Donald-Duck-Film entstammen könnte. Der Mittelsatz strahlt die ländliche Stimmung des Titels aus und nimmt als Sicilienne Bezug auf eine traditionelle Barock-Form. Am bezeichnendsten ist aber wohl das Finale: Hier erklingt das Cembalo in voller Pracht des 18. Jahrhunderts, ohne dabei jedoch zur besinnlichen Barock-Ruhe zu kommen. Denn immer wieder wird es vom quasi modernen Orchester gestört. Dieses "sehr fröhliche" Presto endet überraschend mit einem Moll-Schlussakkord des Cembalo, der nicht wirklich einer ist. Zu beiläufig erklingt er - beinahe so, als habe das Soloinstrument nun nichts mehr zu sagen.

Am 3. Mai 1929 leitete Pierre Monteux in Paris die Premiere von Francis Poulencs 1927/1928 entstandenem „Concert champêtre“ mit Wanda Landowska als Solistin. Ohne Winnaretta Singer, die Tochter des Nähmaschinen-Millionärs, wäre dieses Werk nicht entstanden.

Zwei Mitschnitte stelle ich Ihnen heute zur Auswahl, zunächst vom 14. April 2019 aus Polen mit Ewa Mrowca und dem Symphonieorchester der Musikakademie Krakau unter der Leitung von Rafał Jacek Delekta:

www.youtube.com/watch

Zum Vergleich noch der Mitschnitt aus dem Gerthsen-Hörsaal in Karlsruhe vom 30. April 2022 mit Jory Vinikour und dem Kammerorchester des KIT unter der Leitung von François Salignat:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von sd