Nachdem Saint-Saëns 1858 das Amt des Organisten an der Pariser Eglise de la Madeleine angetreten hatte, schrieb er Ende des Jahres mit dem Oratorio de Noël das erste bedeutende geistliche Werk seiner Amtszeit. Mit Ausnahme des Quintetts, das Saint-Saëns später komponierte, entstand das Werk in nur elf Tagen, vom 4. bis 15. Dezember 1858 und wurde am 25. Dezember des gleichen Jahres in der Église de la Madeleine uraufgeführt. Chor, Vokalsolisten und Orchester hatten also gerade einmal eine gute Woche Zeit, um das Werk einzustudieren. Saint-Saëns widmete es seiner Schülerin Madame la Vicomtesse de Grandval.
Obgleich Saint-Saëns gleich zu Beginn dem großen Thomaskantor seine Reverenz in Gestalt eines Präludiums „im Stil Seb. Bachs“ erweist, war Bachs Weihnachtsoratorium mit seiner strahlenden Festlichkeit nicht das Vorbild für seine Komposition. Es war eher der Lyrismus der französischen Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts; schon die Besetzung lässt dies erkennen: Zu einem Solistenquintett treten ein vierstimmiger Chor, Streichorchester, Harfe und Orgel hinzu. Das Werk ist abwechslungsreich: Erzählendes Rezitativ, volkstümliche Melodik, choralartige chorische Homophonie, hymnische Steigerung, in einem Falle auch aufbegehrende Dramatik – all das ist hier vorhanden, ohne dass die lyrische Grundstimmung dabei verloren geht. Die Auswahl der Bibeltexte stammt vom Komponisten selbst, der die neutestamentliche Weihnachtsgeschichte zum großen Teil aus der Sicht alttestamentlicher Weissagungen erzählt. Das Oratorium verzichtet auf eine dramatische Handlung, die Chöre haben hier eine betrachtende Funktion.