Diese von Joseph von Spaun überlieferte Geschichte zeigt zum einen, wie sehr Schubert selbst die Winterreise als Liederzyklus im modernen Sinne begriff: als eine nicht nur durch die Gedichte von Wilhelm Müller, sondern auch durch die musikalische Stimmung zusammengehaltene Einheit; zum anderen, wie sehr die extremen Gefühle von Melancholie und Selbstzerstörung in diesen Liedern selbst die mit Schubert am meisten vertrauten Hörer seiner Zeit irritierten, ja abstießen.
Heute ist die „Winterreise“ ein Denkmal des Kunstliedes, ein Standard, für den man die Erregung der ersten Hörer und des Komponisten erst wieder kreieren muß. Denn natürlich ist der Zyklus seit seiner Entstehung von Deutungen und Interpretationstraditionen überlagert worden. Ihr Bogen reicht von einer Auffassung als politische Parabel des Metternich-Regimes bis zur vordergründigen Interpretation als romantische Liebesgeschichte. Zeitlos faszinieren bis heute die 24 Lieder, die von einem in der Liebe enttäuschten Mann und dessen ziellose Reise durch eine erstarrte Winterlandschaft erzählen.
Schuberts „Winterreise“, vollendet in den letzten Monaten seines kurzen Lebens, ist eines der eindrucksvollsten und rätselhaftesten Meisterwerke der europäischen Kultur. Einst geschrieben für intime Gelegenheiten, füllt der Liederzyklus heute die größten Konzertsäle der Welt. Und wenn es einen Sänger unserer Zeit gibt, auf den ich mich festlegen müsste (was eigentlich schon eine unlösbare Aufgabe ist, denn es gibt so viele sehr gute!), würde meine Wahl auf Ian Bostridge fallen – bis heute habe ich ihn in den letzten 15 Jahren dreimal live mit verschiedenen Pianisten erlebt; und jedes Mal hatte ich das Gefühl, einem Psycho-Krimi beizuwohnen.